Die Boxhagener Straße in Berlin zeigt anschaulich, wie Gentrifizierung Viertel verändert. Die internationale Tendenz, ehemals vernachlässigte Stadtteile in moderne und gefragte Wohngegenden umzugestalten, wird hier deutlich.
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von
Daniel Erning

Gentrifizierung: Ein Balance-Akt mit vielen Facetten

Nicht nur in Kreuzberg, Neukölln und Prenzlauer Berg gibt es Beispiele für Gentrifizierung. Die Umwandlung von ehemals unattraktiven Vierteln in moderne Quartiere ist ein internationales Phänomen.

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Die Ernennung des Soziologen Andrej Holm zum Berliner Bau-Staatssekretär vor wenigen Wochen glich einem Paukenschlag, der weit über die Millionenmetropole hinaus zu hören war. Ein Gentrifizierungskritiker sollte sich um die Stadtentwicklung Berlins kümmern? Oha! Mittlerweile ist der 44-Jährige Wissenschaftler wegen seines unehrlichen Umgangs mit seiner Stasi-Vergangenheit zurückgetreten. Nun muss ein Anderer ran und konstruktiv mit den wohnungsbaupolitischen Herausforderungen der wachsenden Hauptstadt umzugehen. Und das sind nicht wenige: Quartiersentwicklung, Wohnungsbau, Gebäudesanierung, Stadtreparatur, Flächennutzung, Mietpreisentwicklung, Klimaschutz - um nur einige zu nennen. Zudem bewegen Gentrifizierungsprozesse die Gemüter. Schließlich soll Berlin für alle Bewohner lebenswert bleiben und zeitgleich zukunftsfähig werden. Doch warum ist Gentrifizierung so ein Reizwort?

Perspektive statt Konflikt

Der Begriff Gentrifizierung wird verwendet, um Veränderungsprozesse in Stadtvierteln zu umschreiben, bei denen ein Wechsel von einkommensschwächeren zu finanzkräftigeren Bewohnern stattfindet. Mit der Gentrifizierung einher gehen häufig bauliche Sanierungsmaßnahmen, wodurch Gebäude aufgewertet werden, was wiederum die Mieten steigen lässt. Nicht selten mit der Folge, dass Alteingesessene kaufkräftigen Neubewohnern weichen müssen. Ein Konflikt, bei dem sich die Parteien häufig unversöhnlich einander gegenüberstehen. Allerdings bietet der Wandel Chancen für den Neustart eines Viertels. Denn vielfach wurde über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, kaum in die Gebäudesubstanz, die Haustechnik und das Wohnumfeld investiert. Das Ergebnis: Marode Fassaden, hohe Energiekosten, eine leidliche Nahversorgung und schmuddelige Parks. Zwar bietet der konservierte Zustand günstigen Wohnraum, kann jedoch auch zum Stigma für die Bewohner werden. Die Gretchenfrage ist, ob und wie es gelingt, Bestehendes mit Neuem so behutsam zu kombinieren, dass daraus eine Perspektive für alle Beteiligten entsteht.

Gentrifizierung weltweit - Stadtviertel verändern sich

Nicht nur in Kreuzberg, Neukölln und Prenzlauer Berg gibt es Beispiele für Gentrifizierung. Die Umwandlung von ehemals unattraktiven Vierteln in moderne Quartiere ist ein internationales Phänomen. Seit Jahrzehnten befinden sich beispielsweise die New Yorker Viertel Brooklyn Heights, Bushwick und Wilhelmsburg in einem Wandlungsprozess. Auch in London verändern sich Stadtteile, wie das von Einwanderern geprägte Brixton, das berühmt-berüchtigte East End und Stratford, das durch die Olympischen Spiele 2012 in den Fokus von Investoren und Immobilienentwicklern gerückt ist. In Paris wird das bislang verpönte Arbeiterviertel Belleville langsam für "die Bürgerlichen" akzeptabel.

Von der Industriebranche zum grünen Quartier

Der Niedergang eines Viertels hat vielfältige Ursachen. Häufig markiert die Schließung eines oder gleich mehrerer Industriebetriebe den Anfang des Prozesses, wie etwa im Fall des New Yorker Stadtteils Dumbo, der gegenüber dem piekfeinen Manhattan auf der anderen Seite des East River liegt und bis Ende des 17. Jahrhunderts ein beliebter Wohnort für die Mittelschicht war. Mit Beginn der Industrialisierung wandelte sich Dumbo jedoch in ein Gewerbegebiet, wo Maschinen wummerten und Schlote rauchten. Als Mitte der 1970iger Jahre viele Unternehmen ihren Standort aufgaben, verfiel der Stadtteil. Mit dem "Dumbo Art Center" begann rund 20 Jahre später die Umstrukturierung. Künstler zogen her, Kreative und Nonkonformisten kamen, weil Ateliers und Werkräume für kleines Geld zu haben waren. Architekten, City-Farmer, Start-ups und Tech-Firmen suchten hier ihr Glück. Im Laufe der Zeit entstand so eine Spielwiese für allerlei Experimente. Der Mainstream begann sich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts für das Gebiet zu interessieren, als Wohnraum in Manhattan knapp wurde.

Anfang 2009 wurde Dumbo zum offiziellen Improvement District der Stadt New York und erhielt mit "Smart Environmental Efforts in Dumbo" ein Nachhaltigkeitsprogramm, das unter anderem Mülltrennung vorsieht sowie alternative Mobilitätskonzepte und regenerative Energieerzeugung begünstigt. Manche mögen Dumbo als "durchgentrifiziert" bezeichnen, denn es gibt auf Chic getrimmte Appartments für über 4.000 Dollar pro Monat. Es gibt moderne Mietwohnungen, die monatlich zwischen 550 und 950 Dollar kosten. Das beharrliche Engagement der Bewohner der ersten Stunde für eine "grüne" Entwicklung ihres Quartiers hat dazu beigetragen, dass nicht allein Kommerz und Rendite regieren, sondern dass auch kleine Bäckereien und inhabergeführte Buchläden eine Chance haben. Genauso wie Geschäfte, die selbstangebautes Gemüse und Bier aus eigener Herstellung verkaufen. Aus einem brachliegenden Gewerbegebiet ist so peu a peu ein zukunftsorientierter Stadtteil geworden.

Gemeinsam mehr erreichen

Ähnlich bemerkenswert ist der Sanierungsverlauf des Eltingviertels in der Ruhrmetropole Essen. Hier hat das Industriezeitalter deutliche Spuren bei Menschen und an Häusern hinterlassen. Wurde früher bei Krupp malocht, müssen viele der 8.200 Quartiersbewohner heute mit brüchigen Erwerbsbiografien klarkommen. Waren die Fassaden der Backsteinhäuser und Gründerzeitbauten einst top in Schuss, bröckeln sie heute vor sich hin. Wenn sich hier etwas grundlegend ändern soll, ist es mit einzelnen Modernisierungsmaßnahmen nicht getan, erkannten die Immobilieneigentümer des Viertels vor einigen Jahren und machten sie unter Führung des Wohnungsunternehmens Vonovia, dem rund 1.400 Wohnungen im Eltingviertel gehören, gemeinsam ans Werk.

In Zusammenarbeit mit der Stadt Essen und dem örtlichen Energieversorger wurde die Initiative "Innovation City Ruhr" ins Leben gerufen, unter deren Dach seit 2014 Gebäude und Wohnungen unter energetischen Gesichtspunkten saniert und aufgewertet werden. In Hunderten Wohnungen steht bis 2019 der sukzessive Austausch der energiefressenden Nachtspeicherheizungen zugunsten von regenerativ erzeugter Fernwärme auf dem Programm. Außerdem werden besser isolierte Fenster eingebaut, Fassaden gedämmt und Bäder erneuert. Darüber hinaus erhalten die Mieter eine moderne Küche. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Quartiersbewohner aktiv in die Veränderungsprozesse mit einbezogen sind. So wurden und werden ihre Wünsche bei der späteren Küchenausstattung frühzeitig berücksichtigt. Je nach Budget können sie zwischen preislich unterschiedlichen Produkten wählen.

Kommunikation ist entscheidend

Für ständige Kommunikation sorgt ein Mieterbüro, das im Sommer 2016 vor Ort eröffnet wurde. Zuvor fanden Informationsveranstaltungen regelmäßig in einem mobilen Container im Viertel statt. Mittlerweile gibt es eine Pop-Up-Galerie, in der lokale Künstler ausstellen. Das Ziel der Initiative war von Anbeginn ein Dialog auf Augenhöhe, damit die Modernisierungsmaßnahmen eben nicht als "Zwangsbeglückung" gesehen werden, sondern als positive Weiterentwicklung des Viertels insgesamt. Zu 99 % ist das den Machern auch gelungen. Kritiker gibt es natürlich immer.

Essen ist 2017 "Europas Grüne Hauptstadt", eine Auszeichnung der EU-Kommission, die Städte erhalten, wenn sie über ein überzeugendes Nachhaltigkeitskonzept verfügen. Die Sanierung des Eltingviertels, ist beispielgebend, wie eine zukunftsweisende Quartiersentwicklung unter Einbeziehung aller Beteiligten gelingen kann.

Langfristiges Denken zahlt sich aus

Ist Gentrifizierung nun grundsätzlich schlecht? Nicht, wenn mit Bedacht und Umsicht vorgegangen wird. Hier gilt: Der Ton macht die Musik. Wer etwas mit der Brechstange erreichen will, kann nicht erwarten, dass dies konfliktfrei geschieht. Wer hingegen sein Vorhaben erklärt und ernst gemeinte Möglichkeiten der Mitbestimmung bietet, wird mehr erreichen. Denn wenn Stadtquartiere lebenswert für alle bleiben und zeitgleich zukunftsfähig werden sollen, dann kann weder die Konservierung des Status Quo eine geeignete Lösung sein, noch der Geldbeutel als Maßstab aller Dinge. Dann handelt es sich jedoch nicht um "Gentrifizierung", sondern schlicht und einfach um: Zeitgemäße Quartiersentwicklung. Angesichts der fortschreitenden Urbanisierung kommt also noch einiges auf Städte und Bewohner zu.

Zusammenfassung

  • Der Begriff Gentrifizierung wird verwendet, um Veränderungsprozesse in Stadtvierteln zu umschreiben, bei denen ein Wechsel von einkommensschwächeren zu finanzkräftigeren Bewohnern stattfindet.
  • Die Umwandlung von ehemals unattraktiven Vierteln in moderne Quartiere ist ein internationales Phänomen: Das New Yorker Viertel "Dumbo", "Brooklyn Heights und "Bushwick" sowie das Pariser Viertel "Belleville" sind Beispiele hierfür.
  • In Deutschland ist das Eltingviertel in Essen mit der Initiative "Innovation City Ruhr" ein Exempel für die Sanierung und Aufwertung eines gesamten Stadtteils.
  • Die Gentrifizierung eines Wohnorts verläuft dann positiv, wenn die Transparenz des Vorhabens für alle Parteien ersichtlich ist und Möglichkeit zur Mitbestimmung bietet.

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